Wir alle kennen diese Szenen aus diversen Filmen, ein Paar fällt leidenschaftlich übereinander her, zieht sich aus und nach ein paar Stößen, gerne auch auf unbequemen Fußböden, kommen beide miteinander. Dieses Szenario mag vielleicht in der Realität schon vorgekommen sein, die Regel ist es jedoch nicht. Trotzdem ist es in unseren Köpfen verankert und die Frauen, die nicht durch rein penetrativen Sex zum Orgasmus gelangen, fühlen sich vielleicht durch diese Bilder als wären sie in der Minderheit. Sind sie aber nicht. Die meisten Frauen benötigen auch klitorale Stimulation (genauer gesagt eine Stimulation der Klitoris-Eichel), um zum Höhepunkt zu gelangen. Nach neueren Erkenntnissen gelangen nur 18,4% der Frauen durch reine Penetration zum Orgasmus.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Männer in bis zu 95 % der Fälle, in denen sie Sex haben, zum Orgasmus kommen, während es bei Frauen nur etwa 65 % sind. Der Unterschied von 30 % ist das, was wir als Orgasm Gap (Gap aus dem Englischen Lücke) bezeichnen. In den entwickelten Ländern ist dieser Unterschied somit noch größer als die Lohnuntschiede zwischen den Geschlechtern. Bravo sexuelle Revolution! Wer meinen mag, dass dieser Unterschied vielleicht physiologische Ursachen haben könnte, dem sei gesagt, dass diese Studien auch zeigten, dass Frauen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften eine sehr viel höhere Orgasmusrate berichten (90%). Die meisten Frauen sind außerdem fähig, mittels Selbstbefriedigung innerhalb von Minuten zum Orgasmus zu gelangen. Der Orgasmn Gap ist somit von äußeren Umständen konstruiert und nicht von den eigentlichen Fähigkeiten des weiblichen Körpers.

Der Hauptgrund, warum cisgender Frauen in selteneren Fällen den Höhepunkt erreichen liegt an einer nicht ausreichenden Stimulation der Klitoris. Schuldige sind die Bilder in Filmen und Pornographie, die uns eben glauben lassen, dass eine Frau ohne Vorspiel und rein durch Penetration zum Höhepunkt gelangt. Direkt daneben auf der Anklagebank sitze unsere Ignoranz der Klitoris. Die wenigsten Menschen wissen wie dieses Organ eigentlich genau aussieht. Der Biologieunterricht beschränkt sich hauptsächlich auf die Darstellung der Fortpflanzungsorgane der Frau, sprich Uterus, Eierstöcke und Eileiter.

Das was allgemein als Klitoris bezeichnet wird, ist nur die Glans, das anatomische Pendant der Eichel. Doch der Großteil befindet sich innerlich und besteht aus Schwellkörpern, die sich ab der 9. Woche in der embryonalen Entwicklung aus den gleichen Anlagen (Genitalhöcker oder Tuberculum genitale wenn es jemanden interessiert) wie der Penis bilden. Bei Erregung schwellen diese Schwellkörper an, wie auch beim Penis. Die Klitoris ist somit nicht nur der kleine Knubbel an der Außenseite der Schamlippen. Dieser kleine Knuppel, die Klitoris-Eichel, enthält über 10.000 Nervenenden. Das sind doppelt so viele wie im gesamten Penis. Die Klitoris-Eichel ist somit äußerst sensibel und will auch demensprechend behandelt werden. Die Vagina, also der Vaginakanal, ist im Gegensatz dazu kaum mit Nervenenden ausgestattet.

Wenn eine Frau sexuell erregt ist, durch Streicheln, Worte, Musik, Stimmung, Küsse…..dann hat sie genau so eine Erektion wie der Besitzer von einem Penis. Die Schwellkörper der Klitoris schmiegen sich an die Scheidenwand und somit wir auch durch Penetration die Klitoris stimuliert. Auch wenn die Klitoris-Eichel oder Kitzler unberüht bleibt. Die Unterscheidung zwischen klitoralem und vaginalem Orgasmus ist somit hinfällig. Der sogenannte G-Punkt ist nämlich höchstwahrscheinlich ein Teil der innenliegenden Klitoris.

Was kann somit zur orgasmischen Gleichberechtigung beitragen? Viele Männer konzentrieren sich auf die Penetration wogegen es für viele Frauen einfacher ist, einen Orgasmus zu bekomme, wenn sie oral oder mit den Fingern befriedigt werden. Es mag für manche nicht einfach sein, aber Kommunikation ist essenziell für guten Sex. Und um zu kommunizieren, was sich gut für einen anfühlt, sollte man natürlich selbst wissen, was sich gut anfühlt. Ein klarer Aufruf zur Selbstbefriedigung und Entdeckung des eigenen Körpers, gerne auch mit der Hilfe eines Spielzeugs. Bei der Vielfalt heutzutage ist bestimmt für jeden das Passende dabei und die Anschaffung kann auch gerne mit dem Partner gemeinsam ausprobiert werden.

Haben sie ein Problem damit, ihrem Friseur ihre Wünsche und Vorstellungen bezüglich ihres neuen Haarschnitts zu äußern? Nein, oder? (Wenn doch, dann sollten sie mich unbedingt kontaktieren!). Die sexuelle Kommunikation mit einem Partner sollte genauso selbstverständlich sein. Dann wäre es nicht mehr nötig, Orgasmen vorzutäuschen und vielleicht dreht sich der Orgamn Gap eines Tages ja in die andere Richtung. Multiple Orgasmen sind real und anatomisch leichter von Frauen zu bewerkstelligen.

Die 60er Jahre haben mit dem Aufkommen der Pille die sexuelle Revolution auf einer rein körperlichen Ebene eingeleitet, die Frauen waren vor der Angst einer Schwangerschaft befreit. Mit #metoo war die Freiheit von sexueller Belästigung und Missbrauch im Fokus, lange genug hat das gedauert! Mir scheint, der nächste Schritt ist die Gleichberechtigung auf der Ebene der sexuellen Befriedigung.

Ein kleiner Nachtrag zu den Zahlen in dem Artikel. Diese gehen aus Studien, die in westlichen Ländern durchgeführt wurden, hervor. Leider ist in vielen Teilen der Welt die sexuelle Revolution jeglicher Art noch in weiter Ferne.